Thesen zur derzeitigen DDR-Unrechtsstaat-Diskussion im Kreisverband DIE LINKE Saalfeld-Rudolstadt
von Andreas Grünschneder (Vorsitzender der Kreistagsfraktion DIE LINKE. Saalfeld-Rudolstadt)
In Bezug auf die z.Z. laufende Auseinandersetzung zum o.g. Thema vertrete ich folgende Thesen zum Thema DDR-Unrechtsstaat und zum Umgang mit diesem Begriff inner- und außerhalb der Partei:
1. DIE LINKE vereinigt in sich unterschiedliche politische und soziale Traditionen und Strömungen. Sie gründet auf dem gegenseitigen Respekt vor dieser Vielfalt und vor den persönlichen Biographien. Sie weiß, dass sie die seltene historische Gelegenheit hat, aus unterschiedlichen Erfahrungen, gewonnen in Ost und West und im vereinigten Deutschland, etwas neues, eine gesamtdeutsche Linke aufzubauen.
2. In der Partei DIE LINKE herrscht Meinungsfreiheit. Verschiedene Auffassungen zum Thema „Unrechtsstaat DDR“ bzw. verschiedene Interpretationen der DDR-Geschichte sind immer auch biographie- und erfahrungsbezogen, somit stark mit Gefühlen verbunden. Dies erschwert gelegentlich eine versachlichte Diskussion und die Achtung vor der anderen Auffassung. Die Linke ist eine sozialistische pluralistische Partei, und das ist – schon aus der Sicht der Vergangenheit – gut so. Allerdings hat dieser Grundsatz stets das immerwährende Austragen von verschiedenen Meinungen zur Folge. Dies gilt es mit Respekt und Anstand auszuhalten bzw. als wesentlichen Verhaltenskodex zu betrachten. Eine Pauschalierung verschiedenster Auffassungen und Einzelmeinungen in Richtung der Gesamtpartei – so wie teilweise in den Medien vollführt – halte ich aus den genannten Gründen für beabsichtigt und an der Realität vorbeiführend.
3. DIE LINKE stellt sich der umfangreichen wie schwierigen Aufgabe, aus der eigenen Geschichte Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft zu ziehen, aus Erfolgen wie aus den Niederlagen. Das gilt umso mehr für das Scheitern des realen Sozialismus im 20. Jahrhundert. Die DDR ist weniger an der Übermacht ihrer Gegner, sondern mehr an ihren eigenen Mängeln und Fehlern, am Unrecht in Politik und System, am systematischen Misstrauen ihrer politischen Führung gegenüber der eigenen Bevölkerung gescheitert.
4. Geschichte verarbeiten heißt für uns Mitglieder: in der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED und der DDR wie der eigenen Biografie zu besseren Einsichten und entsprechendem Handeln zu kommen. Auf ihrem Außerordentlichen Parteitag 1989 hat sich die SED-PDS bei der Bevölkerung der DDR für das von der SED begangene Unrecht entschuldigt und einen Prozess der unwiderruflichen Trennung von stalinistischen Traditionen der SED begonnen.
5. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war der legitime Versuch, nach dem alliierten Sieg über Nazideutschland ein Wiedererstarken sozialer, politischer und ökonomischer Antriebskräfte des Nationalsozialismus zu verhindern – Stichworte hierfür sind die Bodenreform und die Zerschlagung des Großkapitals – und einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen. Dieser Versuch ist gescheitert. Dazu führten nicht nur die äußeren Bedingungen wie Blockkonfrontation, Kalter Krieg und starke Beeinflussung durch sowjetische Staatsführungen. Misslingen musste dieser Versuch vor allem auch aus inneren Gründen: wegen eines eklatanten Mangels an Demokratie und Missachtung elementarer Bürgerrechte, wegen des grundsätzlichen Misstrauens des Staatsapparates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und, schließlich, wegen der mangelhaften Fähigkeit des Wirtschaftssystems, den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden.
6. Der Bau der Mauer, des vorgeblichen „antifaschistischen Schutzwalls“, war ein deutliches Zeichen der Schwäche der DDR-Regierung. Die Mauer richtete sich in letzter Konsequenz nicht gegen äußere Staatsfeinde, sondern gegen die individuellen Freiheitsrechte der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Zwar hat jeder Staat das Recht und die Pflicht, seine Grenzen zu schützen, aber die Geschichte der Mauer entlang der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten steht für den Missbrauch dieses Rechtes. Die Schüsse an der Mauer auf eigene Bürgerinnen und Bürger, die ihren Staat verlassen wollten, stellen eine Verletzung elementarer Menschenrechte dar und sind durch nichts zu rechtfertigen.
7. Nach dem Ende der DDR sind viele auf der Suche nach einem zentralen „Schießbefehl“, einem Dokument, mit dem die Staatsführung die Grenzsoldaten ausdrücklich anweist, auf eigene Bürgerinnen und Bürger beim Versuch, die Staatsgrenze zu überschreiten, gezielt zu schießen. Ein solches Dokument ist bisher nicht gefunden worden. Dokumentiert sind Schießbefehle aus dem Verantwortungsbereich des Ministeriums für Staatssicherheit für einzelne ihrer an der Grenze stationierten Einheiten. Tatsache ist, dass an der Grenze geschossen wurde, dass es Hunderte von Toten gab – ob mit oder ohne offiziellen Schießbefehl. Wenn es keinen Schießbefehl des „Politbüros“ oder der Staatsführung gegeben hat, so wirft das kein besseres Licht auf die Verantwortlichen. Denn sie haben auf jeden Fall nichts getan, um die Schüsse zu unterbinden. Und wenn das Grenzregime ohne zentralen Befehl auskam, so sagt dies mehr über die
systematischen repressiven Mechanismen aus als es ein zentraler Schießbefehl jemals könnte.
7. An dem in der DDR begangenem Unrecht – und ich schließe hier ausdrücklich jenes an christlichen Kreisen begangene ein – gibt es nichts zu entschuldigen und nichts zu relativieren. Dennoch betrachte ich den Begriff des „Unrechtsstaates“ als problematisch und nicht zutreffend. Insbesondere dann, wenn es im Rahmen der innenpolitischen Auseinandersetzungen verdeckt oder offen um die pauschale Gleichsetzung von Nazideutschland und DDR geht. Dieser Vergleich hält bei einer unvoreingenommenen und detaillierten Betrachtung beider Systeme vor der Wahrheit nicht stand. Ich weise auf ähnliche Auffassungen von Frau Lukrezia Jochimsen hin, aber auch auf solche, die von außerhalb der Linken vertreten werden, so z.B. von Erwin Sellering, Gesine Schwan, Lothar de Maiziere u.a.
8. Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist m.E. auch aus folgender Sicht nicht haltbar: Der Ausdruck „Die DDR war ein Unrechtsstaat“ impliziert, Rechtsstaat und Unrechtsstaat wären Gegensätze. Dann wäre die BRD, als anerkannter Rechtsstaat, automatisch moralisch aufgewertet, quasi ein Gerechtigkeits-Staat. Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem Gesetze gelten und einklagbar sind. Ob diese Gesetze fair und gerecht sind, darüber macht der Begriff keine Aussage. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein gewisser Teil bundesdeutscher Gesetzlichkeiten – insbesondere im sozialen und ökonomischen Bereich – dem Anspruch von Gerechtigkeit nicht entspricht, sondern eher den Grundsätzen des Lobbyismus. Somit ist der Begriff „Rechtsstaat“ meiner Meinung nach nicht gleichzusetzen mit dem Begriff „gerechter Staat“, was zur Zurückhaltung in der öffentlichen Debatte mahnt. Darauf wird wird weiter einzugehen sein.
„Die Gerechtigkeit eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ ist die Präambel der Schweizer Verfassung. Ich fürchte, es gibt doch Leute, denen es heute in Ostdeutschland schlechter geht als zu Zeiten der DDR. Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Bildungsrückstände, ungleiche Bildungschancen, psychischer und physischer Arbeitsdruck, Dumpinglöhne, Maulkörbe, finanzielle Schwierigkeiten der Familien, soziale Ängste, unsägliche Tendenzen zum Wirtschaftslobbyismus u.v.a.m. zeugen davon, dass in der Demokratie der Bundesrepublik noch vieles zu gestalten ist. Mancher selbsternannte Ritter und Verteidiger der aktuellen Gesellschaft bzw. der aktuellen Demokratieform „in den Farben der Bundesrepublik Deutschland“ sollte sich dessen bewusst sein und so die eine oder andere Auseinandersetzung mit einer Spur mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung angehen. Auch in der Geschichte der Bundesrepublik gibt es beispielsweise auf dem Gebiet der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Gleichstellung von Minderheiten Kapitel, auf die man nicht stolz sein muss. Von der Vormachtstellung großer Wirtschaftsverbände und ihrem enormen Einfluss in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie dem damit verbundenen Ohnmachtsgefühl breiter Kreise der Bevölkerung will ich an dieser Stelle nicht schreiben.
9.Und schließlich: Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass in der DDR Unrecht geschehen ist und die DDR trotzdem kein totaler Unrechtsstaat war. Die Bundesrepublik Deutschland war und ist zweifellos ein Rechtsstaat. Aus der Summe verschiedener kodifizierter Rechtsgrundsätze wie z.B. der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2), des Grundrechtskatalogs (Art. 1–19) oder der Rechtswegsgarantie (Art. 19 Abs. 4) hat sich die gefestigte Begrifflichkeit des Rechtsstaates entwickelt. Gemessen daran war die DDR trotz mancher verfassungsrechtlicher Lippenbekenntnisse und eines allgemein verständlichen Zivilrechts zunächst – gemessen an unseren heutigen Maßstäben – kein Rechtsstaat. Nichtrechtsstaat ist aber nicht ohne weiteres Unrechtsstaat. Die Mehrheit der UN-Staaten erfüllt nicht die Ansprüche an einen Rechtsstaat nach unseren heutigen Maßstäben. Gleichwohl kommt niemand auf die Idee, sie pauschal als Unrechtsstaaten zu disqualifizieren. Dies gibt mir zu denken und führt zwangsläufig zu der Einschätzung, dass der Begriff „Unrechtsstaat“ eben doch ein ideologischer Kampfbegriff ist und eine objektive Aufarbeitung von Geschichte eher verhindert als befördert.
10.Fehlt es schon an einer gesetzlichen Definition des Begriffs Rechtsstaat, gilt das umso mehr für den diffusen Begriff Unrechtsstaat. Auch im Rechtsstaat kann Unrecht geschehen, sogar in dem Bereich, der den Rechtsstaat ausmacht. So haben die USA in Guantanamo und in von ihr geführten Kriegen z.B. das Grund- und Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde des Menschen aufs Schwerste verletzt und dagegen zunächst überhaupt nicht und später nur eingeschränkt den Rechtsweg eröffnet. Kein ernsthafter Kritiker dieser Praxis wird die USA deshalb einen Unrechtsstaat nennen, bei allen Unzulänglichkeiten, die auch dieser Staat mit sich führt. Kein Zweifel kann aber daran bestehen, das der NS-Staat ein Unrechtsstaat war. Die Etikettierung der DDR als Unrechtsstaat läuft unter diesen Umständen auf eine Gleichbewertung der beiden nichtrechtsstaatlichen Systeme hinaus. Das relativiert einerseits die Einzigartigkeit des verbrecherischen NS-Staates. Zum anderen entlarvt sich der undifferenzierte Umgang mit dem Schlagwort Unrechtsstaat für die DDR als politischer Kampfbegriff und ist auch hier wiederum nicht zielführend für eine differenzierte und objektive Vergangenheitsbewertung.
11. Das Problem der Unvoreingenommenheit bei der Bewertung der Deutschen Demokratischen Republik wird sowohl für Mitglieder der Linken, als auch für Außenstehende, für Anhänger des DDR-Sozialismus wie für dessen Gegner mittel- bis langfristig schwer lösbar bleiben. Nur so viel: Einem Menschen, der (auch in Erfahrung der schlimmen Zeit des Nationalsozialismus) seine ganze Kraft und Einstellung seinerzeit in die (nach damaligen Duktus einzige…) staatliche Alternative zum Erscheinungsbild des „Kapitalismus“ mit dem Namen DDR investierte, sollte man die Verteidigung seines Lebenswerkes nicht vordergründig verübeln. Mit dem gleichen Verständnis ist der Überzeichnung der negativen Seiten der östlichen deutschen Republik bei Menschen zu begegnen, die die Existenz innerhalb des Sozialismus ostdeutscher Prägung teilweise eben erlitten haben. Letztlich obliegt es gerade uns Linken, die wir doch immer noch an gerechtere staatliche Lösungen glauben, die schärfsten Kritiker der unterschiedlichen Ausprägungen des Stalinismus zu bleiben bzw. zu werden.
Gleichzeitig gilt es, einer objektiven Bewertung der Geschichte Vorschub zu leisten und jeglicher Klitterung energisch entgegenzutreten.
Sozialismus kann es ohne wahre Demokratie nicht geben – wahre Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit ist keine!