Dienstag, vorletzter Tag in Jerusalem. Und immer noch gibt es Orte, die zumindest für alle, die erstmalig im Land sind, zu besichtigen sind. So starten meine Mitfahrer_innen den Tag mit einem Rundgang auf der Altstadtmauer, während ich vor der Westmauer auf sie warte, um gemeinsam mit ihnen auf den Tempelberg zu gehen. Ein wahrscheinlich 13jähriger Junge geleitet seinen gebrechlichen Großvater auf das Mäuerchen neben mich zum sitzen. Der Junge hat erst kürzlich seine Bar Mitzwa gehabt, entnehme ich ihrem Gespräch, sehe die Teffilin an Arm und Kopf des Jungen und gratuliere. Sie kommen vom Morgengebet. Der Großvater erzählt von der Bar Mitzwa, der Enkel lächelt stolz. Wo kommst du her fragt er, als ich einen Satz nicht verstehe.
Germania? Bedächtiges Nicken folgt und die Frage nach meinen Großeltern. Plötzlich wechselt er in ein wunderbar klingendes, altes, lange nicht gesprochenes, langsames deutsch. In der Nähe von Berlin groß geworden, mit seinen Eltern geflüchtet 1940. „Wir haben Glück gehabt“ sagt er und das ü klingt wie ein i. Nie wieder war ich da, fährt er fort und ein trauriges Lächeln durchzieht sein runzliges Gesicht. „Deine Großeltern?“ Ich erzähle von meinem Großvater und Urgroßvater, die Teil hatten im III. Reich. Einer überzeugt bis in den Tod.
„oiwawoi“ ist seine Reaktion. Die Mutter des Enkels kommt mit dem Auto, holt beide ab. Ein winken und lächeln aus dem Auto zum Abschied.
Meine Mitfahrer_innen haben den Altstadtmauerrundgang hinter sich gebracht; lange Kleidung überwerfen und los geht es Richtung Tempelberg. Drei Kontrollen auf dem überdachten Holzgang hinauf. Israelische Soldaten sitzen lässig, die schusssicheren Westen über das Geländer geworfen, im Gang. Muslimische Wärter kontrollieren penibel die Kleidung der interessierten Besucher_innen. Eine amerikanische Familie hinter uns fällt dem peniblen Blick zum Opfer: Umziehen. Tücher werden hervorgekramt. Die Wärter bringen weitere.
Wir sind nach Ansicht der Wärter ausreichend bedeckt. Lange Ärmel, hochgeschlossen, lange Hosen. Mehr als 40 Grad, kein Schatten. Schnell ist die Al-Aqsa-Moschee erreicht, vor ihr ca 50 verschleierte Frauen sitzend auf Stühlen. Eine steht, und interpretiert lautstark die Bedeutung einer Koranstelle für den Alltagsgebrauch, der Rest lauscht aufmerksam. Im Fenster der Al-Aqsa-Moschee spiegelt sich der Felsendom, die Sonne brennt.
Das goldene Dach des Felsendoms glitzert, darüber strahlend blauer Himmel. Die Türen stehen offen, hinein geht es jedoch nicht. Auf Rückfrage erklärt ein Wärter ernsthaft, dass man dreimal die Schahāda aufsagen müsse, um hinein zu kommen. Ein Nein hätte ausgereicht. Um uns herum verschleierte Frauen, kritische Blicke auf uns, unsere Kleidung sowohl von ihnen als auch Männern, dazu tuscheln. Raus hier ist mein einziger Gedanke und kurz darauf sind wir weg. Das leichte Unwohlsein legt sich, sobald wir den Tempelberg verlassen haben. Auf dem Weg zur Busstation stoppen wir in einem Café der Altstadt, eine muslimische Familie läuft vorüber, an der Totalverschleierung ist die Frau zu erkennen. Das Baby in den Armen des Mannes ist ebenfalls weiblich. Wie die Mutter verschleiert. Unter dem schwarzen Niqab ist weinen zu hören. Das Unwohlsein taucht wieder auf.
Auf zum Bus nach Beit Jala. Ein Stopp bei Peter, dem Friseur, dessen Ruf gestiegen ist, seitdem er erzählt, dass ich nur wegen seiner Künste ca. alle zwei Monate zu Besuch käme. Ich spiele das Spiel mit und wir beide amüsieren uns jedes Mal auf’s Neue, wenn Kundinnen in den von außen nicht einsehbaren Frauenfriseursalon kommen und auf arabisch nachfragen, ob ich diejenige wäre, welche… und Peter mir in’s englische übersetzt, obwohl ich längst verstanden habe. Dafür gibt es den neuesten Klatsch aus Beit Jala, serviert mit arabischem Kaffee.
Der Bruder meiner Freundin hat Geburtstag und so feiern wir – klassisch arabisch – mit einem überquellenden Mittagstisch am Nachmittag, anschließend Geburtstagskuchen und der arabischen Variante von „Happy Birthday“. Die Mutter, Gründerin einer Organisation zur Emanzipation und Verselbständigung palästinensischer Frauen, hat auf meinen Wunsch Halstücher mitgebracht, mit welchen die Frauen versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wunderschön anzusehende Stickereien. Zwanzig werde ich mit nach Deutschland zurücknehmen. Und sie erzählt. Angetreten als eine der wenigen Frauen zu den Wahlen, nur knapp gescheitert, dafür erfährt ihr Mann heute noch Kritik. Wer das Sagen hätte zuhause. Ob er ein Mann wäre. Ein schiefes Grinsen zieht über sein Gesicht und aus seinen Augen spricht Liebe und Respekt für seine Frau.
Mit anderthalbstündiger Verspätung – oder wie meine Freundin sagte: pünktlich, gemessen an arabischen Verhältnissen, geht es abends auf zur nächsten Verabredung. Wunder geschehen – manchmal – zumindest kleine. Sehr gute Freunde, die vor Jahren nach Norwegen auswanderten, sind zu Besuch bzw. haben sich entschieden, zurückzukommen. Nur einer blieb über die Jahre in Beit Jala. Und so treffen wir uns – alle – nach über sieben Jahren wieder vereint – bei ihm wieder, genießen gemeinsame Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und lassen neue entstehen. Und natürlich spielt der Nahostkonflikt eine Rolle. Einer, der seit mehreren Jahren in Norwegen lebt und arbeitet meint „Die Leute denken, dass sie ein Teil des Konflikts sind. Und als Teil des Konflikts meinen sie, dass die Unterdrückung dazugehöre. Sie glauben nicht mehr an Frieden. Als ob es so wie es ist sein müsste. Genau das ist das Problem.“
Die Kinder sind wach geworden, stehen kurz weinend in der Tür der Terrasse. Schnell sind sie in unsere Runde integriert, beruhigen sich, nehmen Teil. Und sorgen für einen Themenwechsel. Sie sind auf den Namen des Vaters eingetragen, dessen Eltern „1948er“ sind, die israelische Staatsbürgerschaft annahmen und zwei Wohnsitze haben. Einen in Israel, einen in den palästinensischen Gebieten. Die Frau ist Palästinenserin. Während der Vater mit den Kindern jederzeit die Grenzen passieren kann, bleibt sie zu Hause. Ausgenommen sind christliche Feiertage, zu denen sie eine „Permission“, eine Einreisegenehmigung nach Israel erhält. Ein gemeinsamer Urlaub ist möglich, die gemeinsame Reise nicht. Er reist mit den Kindern über Tel Aviv, sie muss nach Jordanien. Ben Gurion – den Flughafen – darf sie nicht betreten. Sicherheitsgebiet.
Mehrfach versuchte er, für sie die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Keine Chance. Gründe für die Ablehnung werden nicht angegeben. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch für sie die Entscheidung ansteht: Ausreise.
Nachts fährt er uns nach Jerusalem zurück, die Kinder sind im Auto dabei. Am Checkpoint werden wir gestoppt, der 4-jährige ruft den Soldaten mehrfach fröhlich „boker tov“ und „shalom“ zu. Für ihn sind sie, die israelischen Soldaten, keine Feinde. Für die Eltern – trotz aller Schwierigkeiten – auch nicht.