Der G20-Gipfel 2017 in Hamburg hat in der gesellschaftlichen Debatte tiefe Spuren hinterlassen. Für die einen gilt er als Mahnmal, wenn mal wieder vor „linkem“ Extremismus gewarnt werden soll. Für die anderen ist er ein weiteres Beispiel für sich aufschaukelnde Polizeigewalt und den autoritären Staatsapparat. Anderthalb Jahre nach dem Gipfel und nach der parlamentarischen Aufarbeitung, unter anderem durch einen Sonderausschuss in Hamburg, ist es möglich mit einem etwas nüchterneren Blick auf das Geschehen zu blicken.
Am Rande eines Austausches zu antifaschistischer Arbeit konnten wir in einer öffentlichen Diskussion Christiane Schneider aus Hamburg zu diesem Thema im Haskala begrüßen. Im Rheinland aufgewachsen, lebt sie seit den 80-er Jahren in Hamburg und kennt sich in der Stadt und deren politischer Landschaft bestens aus. Bereits 1992 wurde sie Mitglied der PDS und ist derzeit eine der Landessprecher*innen der Partei DIE LINKE in Hamburg. Im Landesparlament, der Hamburger Bürgerschaft, ist sie Vizepräsidentin und Sprecherin der Fraktion DIE LINKE für Antifaschismus. In den letzten Jahren machte sich Christiane Schneider auch bundesweit einen Namen, indem sie dazu beitrug, verdeckte Ermittlungen, die sich bis in den Intim-Bereich von Personen erstreckten, aufzuklären. Schneider war Mitglied des Sonderausschusses des Hamburger Parlaments, der mit der Aufarbeitung des Geschehens rund um den Gipfel befasst war. Während der Gipfelwoche war sie nahezu rund um die Uhr als parlamentarische Beobachterin in Hamburg unterwegs und daher oft direkt am Geschehen dran.
In ihrem Eingangsreferat machte Schneider noch einmal deutlich, dass die Stadtbevölkerung in Hamburg von Anfang an dem Gipfel skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Schon die Lage des Tagungsortes am Rande linker Szene-Viertel wurde von vielen in der Stadt, nicht nur auf der linken Seite, als gezielte Provokation aufgefasst. Dennoch behauptete noch im Mai 2017 Innensenator Andy Grote: „Im Prinzip ist das ein Festival der Demokratie.“ Statt zu feiernder Demokratie sah sich die Stadt dagegen mit umfassenden Demonstrationsverboten und großflächigen Grundrechtseinschränkungen in weiten Teilen des Stadtgebiets konfrontiert. Selbst gerichtlich durchgesetzte Camps mit Übernachtungsmöglichkeiten für Demonstranten von außerhalb wurden von der Polizei verhindert oder gewaltsam schikaniert und umfangreich ausspioniert. Selbst typische Hamburger Eigenheiten, wie das „Cornern“ genannte abendliche Treffen auf autofreien Straßen zum Essen, Trinken und Diskutieren, wurden durch Einsatz von Schlagstock und Wasserwerfer unterbunden.
Als einen der Höhepunkte der eskalierenden Polizeiarbeit beschrieb Schneider die „Welcome to Hell“-Demonstration am Abend des 6. Juli. Bereits im Vorfeld deutete sich an, dass mit der Taktik der Polizei zu dieser Demonstration etwas nicht stimmen konnte. Obwohl Sicherheitsbehörden sogar öffentlich immer wieder behauptet hatten, dass die Versammlung gewiss gewalttätig sei, wurden für die Demonstration keinerlei Auflagen erteilt und die Abschlusskundgebung sogar in unmittelbarer Nähe zum Tagungsort des Gipfels in den Messehallen gestattet. Angesichts dieser Merkwürdigkeiten wurden schon in der Vorbereitung Befürchtungen laut, dass die Polizei die Absicht hatte, den Demonstrationszug gar nicht erst loslaufen zu lassen. Diese Annahme wurde auch durch Erkenntnisse aus der Aufarbeitung unterstützt, wie man in einer Broschüre der LINKE-Fraktion der Hamburger Bürgerschaft nachlesen kann: „Im Ausschuss erklärte die Polizeiführung, sie sei davon ausgegangen, dass es […] aus der Demonstration heraus zu einer ‚Machtprobe‘ mit der Polizei kommen sollte. Die Straße St. Pauli Fischmarkt mit der südlich angrenzenden Flutschutzmauer erschien aus polizeitaktischer Sicht die beste Stelle, um die Demonstration schon vorher unter Kontrolle zu bringen.“ Dass die Stelle mit der Flutmauer als baulicher Begrenzung auf einer Seite der Demonstration wahrscheinlich gezielt ausgewählt war, um so Fluchtmöglichkeiten der vom Eingriff der Polizei betroffenen Teilnehmer*innen der Demonstration zu verringern, wirft auf die Einsatzplanung ein sehr zweifelhaftes Licht. Schneider berichtete von einem zutiefst erschütterten Sanitäter, der die so entstandene Situation mit der Massenpanik bei der Loveparade 2010 in Duisburg verglich, bei der er selbst zugegen war und die 21 Menschenleben gekostet hatte. Dass es in Hamburg keine Toten gegeben hat, ist nach Einschätzung Schneiders, die in unmittelbarer Nähe zum Polizeieinsatz außerhalb der Demonstration positioniert war, allein ein glücklicher Zufall.
Als Anlass für das Stoppen des Demonstrationszuges diente der Polizei dann, dass es in den vorderen Blöcken vermummte Demonstranten gab. Man muss dazu wissen, dass das Vermummungsverbot eine deutsche Besonderheit ist und insbesondere Demonstranten aus anderen Ländern davon regelmäßig überrascht werden. Der Versammlungsleiter forderte über die Lautsprecherwagen zum Ablegen der Vermummung auf – und war damit im Prinzip erfolgreich, wie selbst das Einsatzprotokoll der Polizei eindeutig dokumentiert. Doch noch während der Versammlungsleiter die Teilnehmer weiter hinten in der Versammlung dazu aufforderte, ihre Vermummung abzunehmen, stürmten Einsatzkräfte bereits die vorderen Blöcke der Demonstration. Die von Schneider geschilderte Tatsache, dass in der Demonstration eine unbekannte Zahl von Polizist*innen als sogenannte Tatbeobachter in ziviler Kleidung zugegen waren, und nach Aussage von beteiligten sächsischen Beamten auch vermummt auftraten, hinterließ beim Haskala-Publikum ein sehr mulmiges Gefühl. Etwa vierhundert solcher verdeckten Beamten aus unterschiedlichen Bundesländern wurden durch die Hamburger Behörden für den Einsatz ausgerüstet; etwa zweihundert Menschen – in einer Demonstration von 12.000 Menschen – trugen zum Zeitpunkt des Eingriffes noch eine Vermummung, wie eine Polizei-Quelle angibt. Der massive Einsatz gegen die stehende Demonstration wurde von den Teilnehmer*innen und Unbeteiligten als schockierend brutal erlebt. Ein tatsächlicher Anlass für ein solches Vorgehen war für niemanden erkennbar. Auch in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung stieß das Vorgehen der Polizei zunächst auf Unverständnis, Irritation und Ablehnung. Schneider sprach auch davon, dass das Social-Media-Team der Hamburger Polizei und Innenbehörden, welches unter anderem durch Streuen von bewussten Falschmeldungen ein Umschwenken der Medien auf die staatliche Position bewirkte, ungefähr 300 Personen umfasste. Die Zerschlagung dieser Demonstration durch Einsatzkräfte gilt in der Aufarbeitung der Geschehnisse als die entscheidende Weichenstellung für das weitere Geschehen am G20-Wochenende. In ihrem Bericht schreibt die Hamburger Fraktion DIE LINKE: „Die Eskalation am Hafenrand machte deutlich, dass radikaler Protest mit härtester Konfrontation durch die Polizei zu rechnen haben würde.“
Kopfschütteln rief es im Haskala-Publikum auch hervor, als Schneider die Vorkommnisse rund um die Gewaltausbrüche im Schanzenviertel schilderte. Auch hier erweist sich das Handeln der Sicherheitsbehörden als überaus fragwürdig. Freilich rechtfertigt es weder Zerstörungen noch Plünderungen – „Das geht gar nicht.“ kommentierte Schneider – aber zu wissen, dass die Polizei gezielt viele hunderte Menschen in das Viertel abgedrängt hatte, wirft durchaus ein anderes Licht auf das, was sich da abspielte. Schneider äußerte die Vermutung, dass es darum ging, für Ruhe zu sorgen, während die Staatsgäste in der Elbphilharmonie einem Konzert lauschten. ‚Sollen die sich doch in dem als links geltenden Viertel austoben‘, sei wohl ein Gedankengang der Polizei gewesen, der auch erklären könnte, warum über mindestens drei Stunden die Polizei dem Treiben tatenlos zusah. Erst just in dem Moment, als die Wagenkolonnen von Merkel, Trump und Co. sich zum Verlassen der Konzerthalle in Bewegung gesetzt hatten, erging der Befehl zum Eingriff. Und der erfolgte mit härtesten Bandagen: Das erste Mal in der bundesdeutschen Geschichte überhaupt wurden Gummigeschosse eingesetzt. Spezial-Einsatzkommandos, die sonst hauptsächlich in der Terrorbekämpfung zum Einsatz kommen, stürmten eine ganze Reihe von Häusern entlang einer der Hauptstraßen des Viertels – mit der Waffe im Anschlag. Beteiligte Einsatzkräfte bestätigten später, dass sie die Freigabe des Schusswaffeneinsatzes erhalten hatten. Viele Wohnungen wurden aufgebrochen, dort lebende Menschen stundenlang in Gewahrsam genommen. Straftaten konnten nicht einem dieser Menschen vorgeworfen werden; zur falschen Zeit am falschen Ort. Grund für das rabiate Vorgehen war laut Polizei, dass von mehreren Seiten die Information vorlag, dass sich auf den Dächern entlang der Straße Menschen postiert hätten, die mit Gehwegplatten, Molotov-Cocktails und Stahlspeeren bewaffnet seien, um eintreffende Polizei anzugreifen. Wie sich in der parlamentarischen Aufklärung herausstellte stammte die Information nicht von mehreren Quellen, sondern aus nur einer einzigen beim Verfassungsschutz. Offenbar ohne weitere Prüfung wurde dies dazu genutzt, die Schusswaffenfreigabe in einem dicht bewohnten Stadtviertel zu erteilen. Beweise dafür, dass auf den Dächern tatsächlich bewaffnete Personen lauerten, konnte die Polizei bis heute nicht vorlegen. Weder Gehwegplatten noch Flaschen oder andere Wurfgegenstände konnten auf den Dächern sichergestellt werden. Nach Aussagen der Polizei gäbe es angeblich Videomaterial, welches die Vorwürfe belegen würde, doch weigerte man sich innerhalb der parlamentarischen Aufklärung, dieses zu zeigen. Angesichts der Tatsache, dass die Hamburger Sicherheitsbehörden sonst keine Möglichkeiten ausließen, auch jedes nur ansatzweise die Linke Szene belastendes Material zu veröffentlich, lässt diese Weigerung, die Videos selbst in nicht-öffentlichen Sitzungen zu zeigen nach Schneiders Ansicht nur eine Schlussfolgerung zu: „Ich glaube nicht, dass es diese Videos gibt.“ Die Kritik, die die Abgeordnete aus Hamburg an der Polizeiführung äußerte, richtete sich jedoch nicht allein gegen das Vorgehen gegen Demonstranten und unbeteiligte Personen. Auch am Umgang mit den eingesetzten Polizeibeamten, so machte Schneider sehr deutlich, gibt es sehr viel auszusetzen. Aus ihrer Beobachtertätigkeit berichtete Schneider zum Beispiel, dass Polizistinnen etwa an einen Pfosten gelehnt in ihrer 20kg schweren Ausrüstung stehend schlafen mussten. Ein Polizist habe ihr später berichtet, dass seine Einheit nicht mehr als eine Stunde Schlaf pro Nacht bekam und die Polizist*innen teilweise auf den Dächern der Polizeiwagen schliefen, da es keine Schlafplätze für sie gab. Neben Schlafmangel war Dehydrierung eines der größten Probleme. Aus dem Publikum wurde dazu angemerkt, dass in Gesprächen mit Polizisten mehrfach geäußert wurde, dass Beamte im Dienst absichtlich an den Rand ihrer Kräfte und Nerven gebracht werden, um dann besonders aggressiv etwa gegen Demonstrationen vorzugehen. Schneider bestätigte diese Praxis als tatsächliches Vorgehen in der Polizei, welches sie ebenfalls aus Gesprächen mit Polizisten und aus Einsatzunterlagen so kenne. Ob das so auch bei den G20-Protesten ablief, konnte die Abgeordnete aber aus ihrer Aufklärungsarbeit nicht bestätigen.
Die Veranstaltung endete mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des Gipfels und die Geschehnisse rund herum. Schneider berichtete zum Beispiel von vielen Gesprächen, die sie mit Menschen führt. Obwohl inzwischen über ein Jahr vergangen ist, haben viele noch immer das Bedürfnis ihre Erlebnisse und Beobachtungen mitzuteilen und dafür Gehör zu finden. Schließlich wurde aus dem Publikum noch die Frage nach den Entschädigungen gestellt, die an die Betroffenen von Zerstörung und Plünderungen ausgezahlt werden sollten. Doch auch hier hatte Schneider nicht viel Gutes aus Hamburg zu berichten: Von den 40 Millionen Euro, die der Bund und Hamburg zur Verfügung gestellt hatten, wurden nur etwas mehr als eine Million tatsächlich an Betroffene ausgezahlt. Weitere 19 Millionen von diesem Geld, so hat eine Anfrage von Schneider gezeigt, flossen dagegen direkt an das Innenministerium, um weitere Kosten des G20-Polizeieinsatzes zu decken. Ein wahres Festival der Demokratie.