Seit 1991 findet der antifaschistische und antirassistische Ratschlag jährlich um den 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, an wechselnden Orten in Thüringen statt. Ziele sind die Analyse aktueller Entwicklungen in Region und Gesellschaft, die Vernetzung sowie die Suche nach gemeinsamen Handlungsperspektiven gegen Rechts.
Die Krise in Gesundheit, Gesellschaft und Politik
Seit Januar 2020 befindet sich die Welt in einer globalen Gesundheitskrise. Der Corona-Virus dominiert nicht nur die öffentliche Berichterstattung, sondern auch die Gespräche im Alltag und in politischen Gruppen. Rassist*innen bespucken und beschimpfen vermeintliche Asiat*innen, weil sie diese für den Virus verantwortlich machen. Sie bezeichnen ihn als „China-Virus“ und machen Geflüchtete und Migrant*innen für die Ausbreitung mitverantwortlich. Es kommt zu massiven Aufmärschen von Verschwörungsideolog*innen, Neonazis, Esoteriker*innen und vielen weiteren. Im Umfeld dieser Demonstrationen kommt es auch zu Übergriffen gegen Journalist*innen.
Doch auch der Staat reagiert mit massiven Einschränkungen auf die Gesundheitsgefährdung. Viele betreffen den persönlichen Bereich, einige auch unsere Grundrechte. Dabei zeigt sich erneut, dass staatliches Handeln mehrheitlich von neoliberalen Interessen geprägt ist. Während bspw. Demonstrationen in Thüringen komplett verboten wurden und Demonstrierende bei einer #LeaveNoOneBehind Demo am 22.April in Jena kriminalisiert wurden, bleiben Produktionen – beispielsweise in der Rüstungs- und Maschinenbauindustrie – anfänglich fast ungestört geöffnet. Auch der Gesundheitssektor ist stark getroffen. Insbesondere dort zeigen sich die Mängel und falschen Entscheidungen der letzten Jahre. Die Beschäftigten müssen dies ausbaden, anfänglich ohne ausreichende Schutzbekleidung, unter einem enormen Druck und schließlich mit einem Klatschen vom Balkon als Dank. Gleiches gilt für die Kolleg*innen im Lebensmittelhandel. Osteuropäische Migrant*innen werden zur Sicherung der Spargelernte eingeflogen, um dann wochenlang, außerhalb der Feldarbeit, unter Quarantäne in Gemeinschaftsunterkünften eingesperrt zu sein.
Durch die Corona-Pandemie bedingten Maßnahmen findet eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen statt. Eine besonders starke Belastung erfahren weiblich sozialisierte Personen. Damit meinen wir Menschen, die aufgrund ihrer familiären und gesellschaftlichen Sozialisation bestimmte weibliche Anforderungen und Verhaltensweisen verinnerlicht haben. Die vom Wert abgespalteten reproduktiven Tätigkeiten, wie bspw. die Pflege von Angehörigen, Kinderbetreuung oder Homeschooling müssen nun noch neben dem Homeoffice, sowie der Lohnarbeit am gewohnten Arbeitsplatz, erledigt werden. Diese Tätigkeiten sind notwendig, um die Ware Arbeitskraft zu erhalten bzw. herzustellen. In der kapitalistischen, auf Warentausch basierenden Gesellschaft, hat eine Ware nicht von sich aus einen Wert, sondern bekommt diesen durch die menschliche Arbeit. Aus diesem Grund ist auch nur die Lohnarbeit wertbildend. Die Schattenseite davon sind eben die Tätigkeiten, die nicht wertbildend sind, aber trotzdem benötigt werden, da sie die menschliche Arbeitskraft reproduzieren (Hausarbeit, Care-Work, etc.). Im patriarchal organisierten Kapitalismus sind es mehrheitlich Frauen*, die diese Aufgaben erledigen müssen. Ebenso wie der Ware, scheinbar natürlich der Wert zukommt und das dahinterstehende gesellschaftliche Verhältnis verkannt wird, wird die Grundlage der Arbeitskraft und dementsprechend der Warenproduktion verdeckt. Die Arbeitskraft und letztendlich der Wert existieren also nur aufgrund der Abspaltung dieser Tätigkeiten vom Wert in un- oder schlechtbezahlten Care- und Reproduktionsarbeiten. Diese Grundlage wurde nun einerseits durch die Corona bedingten Maßnahmen sichtbar. Andererseits führt der Lockdown zu einer Verlagerung bestimmter Tätigkeiten zurück ins Private, die vorher gesellschaftlich getragen wurden, wie Schule und Kinderbetreuung. Da diese hauptsächlich von Frauen* erledigt werden, entsteht für sie eine höhere Belastung als zuvor. Zusätzlich nimmt die häusliche Gewalt zu, so dass ’stay home‘ für viele, vor allem weiblich sozialisierte Personen, keinen Schutz bringt, sondern die feministische Erkenntnis, dass das eigene Zuhause oft kein sicherer Ort ist, bestätigt. Auch in dieser Krise werden am Ende marginalisierte und ausgebeutete Gruppen für den Großteil der Ausgaben aufkommen und das meiste Leid erfahren.
Am 25. Mai wird George Floyd in den USA von Polizisten aus rassistischen Motiven ermordet. Trotz Corona und der Gefahr einer Ansteckung gehen bundesweit hunderttausende Menschen auf die Straßen, organisieren sich. Der Antirassismus bekommt die Aufmerksamkeit, die er seit Jahrzehnten verdient, wenn es nicht um deutsche, sondern US-amerikanische Zustände geht. Solche Großdemonstrationen kamen nicht zustande nach dem Mord an Oury Jalloh, dem desaströsen Versagen bei der Polizei und des Verfassungsschutzes bei der Aufklärung der Morde des NSU-Netzwerkes oder dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle.
Und es geht weiter: Die FDP lässt im Februar in Thüringen einen Ministerpräsidenten mit der Gnade der AfD wählen, in Hanau ermordet ein Rassist zehn Menschen und es ziehen vermehrt neonazistische Kader nach Thüringen. Es zeigt sich, dass die konservative bis faschistische Organisation nicht stillsteht. Sicherlich schafft die Wahl Kemmerichs eine Großmobilisierung, jedoch verursacht weder der Zuzug von neonazistischen Kadern, noch die Morde von Hanau einen Aufschrei der Anständigen und wieder einmal kein Handeln der Zuständigen. Gerade jetzt stellt sich also die Frage nach antifaschistischer und antirassistischer (Re)Organisation und öffentlichen Aktionen in Zeiten der Krise.
Lasst uns trotz der Corona-Krise nicht ruhig sein und gemeinsam nach antifaschistischen und antirassistischen Handlungsperspektiven suchen.
Doch was bedeutet das alles für den Ratschlag 2020?
Auch wir stecken in all diesen Prozessen fest. Auch uns, als Orgakreis des antirassistischen und antifaschistischen Ratschlags betreffen diese Diskussionen. Und wir alle merken, dass wir diesen Austausch benötigen, aber in diesem Jahr nicht zentral verantworten können, um Ansteckungen zu vermeiden. Der Ratschlag steht immer für seine Offenheit und die Möglichkeit der freien Teilnahme. Die Corona-Maßnahmen mit Pandemienachverfolgungslisten, Teilnehmer*innenbeschränkungen und starken, berechtigten Hygieneauflagen würden all dies in Frage stellen. Wir werden also im Jahr 2020 keinen zentralen, klassischen Ratschlag stattfinden lassen. Jedoch möchten wir trotzdem die Möglichkeit zum Austausch und zur Bildung geben. Digital, dezentral, solidarisch. Nehmt teil an den dezentralen Mahngängen, klickt euch in die digitalen Workshopangebote, oder nehmt an den kleineren Workshops in eurer Stadt teil. Bei allen Angeboten werden die notwendigen Hygienebestimmungen eingehalten.