Interview Jungle World: „Wo war damals der Aufschrei?“

Katharina König ist seit 2009 Abgeordnete der Linkspartei im Thüringer Landtag und antifapolitische Sprecherin der Partei. Im Juli 2010 hatte eine Gruppe Neonazis einen Anschlag auf sie geplant. Die Verdächtigen wurden vorübergehend festgenommen. Ein weiteres Mal festgenommen wurden sie wenig später, als sie von einem Kameradschaftsabend in Zschadraß kamen, auf dem, wie die sächsische Staatsregierung auf eine Kleine Anfrage der »Linken« erklärte, der Chef der in den siebziger und achtziger Jahren aktiven »Wehrsportgruppe Hoffmann«, Karl-Heinz Hoffman, aufgetreten war. Die Staatsanwaltschaft Gera leitete Ermittlungen ein und sprach von einer militanten »rechtsextremen Zelle«. Verhaftet wurde niemand. Ein Interview der linken Wochenzeitschrift Jungle World mit Katharina König.

Sie sind schon seit Anfang der neunziger Jahre aktiv im Kampf gegen die Nazi-Szene in Jena, aus der auch die mindestens drei Personen stammen, die sich als »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) organisierten. Wie sah die Situation damals aus?

Es war damals in Jena nicht viel anders als in vielen anderen ostdeutschen Städten. Es gab Stadtteile, in denen konnte man sich nicht frei bewegen, wenn man irgendwie links-alternativ aussah oder das Aussehen auch nur so gedeutet wurde. Die Nazis veranstalteten regelrechte Hetzjagden.

Was war für Sie der Anlass, selbst aktiv zu werden – die persönliche Betroffenheit als potentielles Opfer der Nazis?

Ich glaube nicht, denn ich bin erst relativ spät »Opfer« geworden, erst 1993. Damals, ich war 15, bin ich von vier Leuten nach einem Fußballspiel abgefangen worden. Zwei hielten mich fest und eine mir namentlich bekannte Frau hat dann mehrfach auf mich eingetreten. Erst in die Magengrube, dann, als ich schon am Boden lag, auf den Kopf. Die Bürger sind einfach vorbei gelaufen. Ich musste dann mit Kopf- und Bauchverletzungen ins Krankenhaus. Für mich war das Engagement aber schon vorher sehr wichtig. Bei der Jungen Gemeinde Stadtmitte habe ich mitbekommen, wie häufig Leute von Nazis verfolgt und angegriffen worden sind.

2010 hatten Neonazis einen Anschlag auf Sie geplant, der offenbar von der Polizei verhindert wurde.

Ich erfuhr davon durch den Anruf eines Journalisten. Er erzählte mir, dass vier Neonazis in einem Auto angehalten worden seien, die mit Brandsätzen auf dem Weg nach Saalfeld waren, um dort mutmaßlich ein auch von mir häufig genutztes Fahrzeug in Brand zu stecken. Mir ist aber wichtig festzustellen, dass Flüchtlinge, linke Jugendliche oder Antifas tatsächlich einer viel größeren Gefahr ausgesetzt sind als eine Abgeord­nete.

Eine Bekannte von Ihnen ist in den neunziger Jahren körperlich von Beate Zschäpe angegriffen worden, die inzwischen als mutmaßliches Mitglied des NSU in Haft sitzt.

Ja, das passierte auf dem Jenaer Weihnachtsmarkt. Meine Bekannte wurde dabei am Fuß schwer verletzt. Entscheidend ist dabei der politische Hintergrund. Die haben das ja nicht gemacht, weil die einfach besonders gewalttätig sind. Die wollten Menschen einschüchtern und eine Veränderung der Jugendkultur erreichen.

Wie ist die Situation in Jena heute?

Anfang 2000 begann die Kampagne »Thüringen tolerant«, und auf einmal hatten alle eine Sensibilität für das, was bereits zwölf Jahre lang stattfand, und merkten: Ja, hier gibt es Neonazis und hier gibt es ein Problem. Der Vorteil in Jena war, dass es schon sehr lange verschiedene gesellschaftliche Gruppen gab und gibt, die gegen Rechts aktiv sind.

Besteht bei der Debatte über den NSU nicht die Gefahr, dass der gesellschaftliche Hintergrund ausgeblendet wird?

Was überall in den Medien vernachlässigt wird, ist die Einstellung der Bevölkerung, wie sie etwa in den offiziellen Studien der thüringischen Landesregierung jedes Jahr aufs Neue zum Ausdruck kommt. Demnach verteten in Thüringen etwa 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische und über 50 Prozent rassistische Einstellungen. Das ist der Resonanzboden, auf den die Neonazis treffen. In den neunziger Jahren gehörte ein offen geäußerter Rassismus gegenüber Flüchtlingen und Menschen anderer Hautfarbe zur Tagesordnung. Nur vor diesem Hintergrund konnten die Morde und Pogrome von Hoyerswerda, Rostock, Solingen und Mölln stattfinden. Das ist auch eine Grundlage für das Vorgehen von Neonazis heute. Darum reicht es auch nicht aus, jetzt nach einem neuen NPD-Verbotsverfahren zu schreien oder eine zentrale Datenbank für Neonazis zu fordern.

An welche konkreten Maßnahmen denken Sie?

Zuallererst muss die »Extremismusklausel« weg. Außerdem sollten die Projekte gegen »Linksextremismus« eingestampft werden. Vor allem muss die Antifa endlich ernst genommen werden. Seit 1990 listet die Antifa akribisch die Umtriebe der Neonazis auf: Wann von wem gegen wen es welche Überfälle gab und wie sie zusammenhängen – das alles wurde dokumentiert, aber nicht öffentlich zur Kenntnis genommen. Was plötzlich wahrgenommen wird, sind diese zehn Todesschüsse. Es ist ja nicht so, dass jenseits des NSU nichts passiert wäre. Es gab über 150 Morde durch Rechte seit 1990. Ja, die Taten, über die jetzt diskutiert wird, waren besonders kaltblütig. Aber wo ist denn sonst der Unterschied? Ich finde es gut und richtig, dass es jetzt Erschrecken und Empörung gibt über die zehn Morde, aber ich frage mich einfach, wo war der Aufschrei bei all den anderen Todesopfern?

Was denken Sie über die jüngsten Reaktionen der Bundesregierung?

Ich finde die jetzt kursierenden und angebotenen Maßnahmen komplett falsch und auch nicht angemessen. Nach gerade mal einer Woche kommen die ersten Vorschläge mit Datenbanken, nationalen Abwehrzentren oder Vorratsdatenspeicherung. Letztlich versucht die Bundesregierung jetzt, lange vorher geplante Vorhaben durchzudrücken, für die man diese schlimmen Morde funktionalisiert. In den kommenden Monaten wird es sicherlich eine größere Aufmerksamkeit für die Problematik geben, aber das wird wieder abflachen. Für entscheidende Veränderungen bräuchte es einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel, die Veränderung konkreter Alltagssituationen. Auch auf politischer Ebene müsste sich vieles ändern. Wenn ich beispielsweise sehe, dass in Thüringen Neonazis Wirtschaftsfördergelder bekommen, weil der Verfassungsschutz nicht kapiert oder entsprechende Stellen nicht darüber informiert, um wen es sich da handelt, oder dass die Landesregierung ein Schloss an einen rechten Verein verkauft, in dem dann das nächste Neonazi-Zentrum in Thüringen entstehen kann – da kann man der Landesregierung nur sagen, die soll mal ihre Augen aufmachen! Und wenn sie keine Ahnung hat, soll sie die Antifa fragen.

Angesichts der Rolle der Verfassungsschutzbehörden werden Forderungen lauter, diese Ämter abzuschaffen.

Das steht ja auch im neuen Grundsatzprogramm der Linkspartei: »Wir wollen die Geheimdienste abschaffen.« Es ist schon lange klar, dass der Verfassungsschutz mit seinen Methoden überhaupt nicht in der Lage ist, eine solche Situation zu erkennen und zu verhindern. Im Gegenteil, so wie er arbeitet, hilft er noch dabei, dass sich derartige Neonazi-Strukturen entwickeln können. Tino Brandt etwa, der Führer des »Thüringer Heimatschutzes«, aus dem auch die drei bislang bekannten Mitglieder des NSU hervorgingen, hat 200 000 D-Mark bekommen, um Informationen zu liefern. Dieses Geld hat er fast komplett in die Neonazi-Strukturen gesteckt. Mit einer Auflösung des Verfassungsschutzes wären sofort genügend Gelder für sinnvolle Projekte gegen Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus frei.

Interview: André Anchuelo, publiziert unter:  http://jungle-world.com/artikel/2011/47/44376.html

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