Mit dem Bus 21 fahren wir Richtung Westbank. Die Fahrt ist kurz, der Checkpoint hinein in die A-Zone schnell passiert. Den Busfahrer bitte ich, uns vor der Einfahrt nach Beit Jala auf der Straße aussteigen zu lassen – zu viele Bilder und Geschichten verschwinden während einer Fahrt. Und so stehen wir an der „DCO“, dem Hintereingang nach Beit Jala. Rechts das Warnschild, im Hintergrund zu erblicken eine Basis der israelischen Armee. Ich denke an Freunde, die sich jedes Mal, wenn sie den Checkpoint passieren, sorgen. Sorgen vor einer möglichen Kontrolle: israelisch-palästinensische Ehepaare in der Westbank. Die einen dürfen offiziell nur mit Genehmigung hinaus, die anderen offiziell nicht hinein. Eine grenzüberschreitende Liebe ist nicht vorgesehen.
Wir laufen nach Beit Jala hinunter. Linkerhand zu erblicken Mauer, Tunnel, Checkpoints. Und lange nicht gepflückte Olivenbäume. Auf für Palästinenser nicht mehr zu betretenes Land.
Viel erzähle ich meinen Mitfahrer_innen – von den Tunneln, den Olivenfeldern, dem Einmarsch der israelischen Armee während der II. Intifada, zerschossenen Wassertanks auf den Dächern, der kleinen christlichen Stadt Beit Jala, aus der mehr und mehr Christen auswandern. Sie stehen zwischen den Fronten. Der Mann meiner Freundin holt uns ab, wir fahren nach Betlehem zu ihnen nach Hause. Freude über das Wiedersehen, mein Patenkind gluckert im Hintergrund während sie Neuigkeiten erzählen. Arbeit gefunden für umgerechnet 400,00 € im Monat, die künftigen Schul- und Universitätskosten der 8-monatigen Tochter bereiten ihnen Kopfzerbrechen. Char Homa, eine der Siedlungen auf palästinensischem Gebiet liegt direkt gegenüber ihrer Wohnung, vom Balkon aus zeigen und erzählen sie meinen Mitfahrer_innen.
Die wunderbare arabische Gastfreundschaft genossen, gehen wir gemeinsam in die Geburtskirche. Der im Januar noch in Sanierung befindliche Innenraum ist fertiggestellt, im Außenbereich sind weiterhin Einschusslöcher aus der Zeit der II. Intifada zu sehen. Die Geburtskirche ist verhältnismäßig leer; einige Familien und die Vorbereitungen für zwei Hochzeiten laufen. Überschwingende Hochzeiten, bis zu 1000 Gäste werden geladen, den wenigen Möglichkeiten zum Feiern wird ausschweifend Genüge getan.
Auf dem Weg zum Flüchtlingscamp „AIDA“ unterhalte ich mich mit meiner Freundin. Immer mehr Menschen erzählen – so sagt sie – dass das was Israel heutzutage in den palästinensischen Gebieten macht gleich dem Vorgehen der Deutschen während des III. Reiches wäre. Aber sie würden wenig über das III. Reich wissen. Sie lächelt mich entschuldigend an und sagt: Unsere Schulbildung… du weißt.
In „AIDA“ entdecke ich erneut mir unbekannte Bilder. An der Mauer, an den Wänden der Häuser, auf der Straße. Kinder klettern die Zäune hoch, Kontaktaufnahme per lächeln. Palästinensische Soldaten stehen vor „AIDA“ auf der Straße, auch ihnen scheint nicht klar zu sein, was der Sinn ihrer Aufgabe direkt an der israelischen Mauer ist. Seit 1948 – offiziell 1950 – leben auf 0,71 Quadratkilometern heute mehr als 4.700 registrierte Flüchtlinge aus 17 Dörfern. Staatenlose. Mehrheitlich wollen sie die palästinensische Staatsangehörigkeit nicht annehmen, da sie damit – so ihre Berichte – ihre im heutigen Israel liegenden ehemaligen Häuser und Wohnorte aufgeben würden. Die Dörfer gibt es dreiundsechzig Jahre später nur noch teilweise, die Häuser überwiegend nicht mehr.
Am Abend kommt die Familie zusammen, zurück von einem sonntäglichen Ausflug mit der jüngeren Tochter und deren bester Freundin, einer Muslima. Wir sprechen über ihren Besuch in Deutschland. Geht das denn überhaupt fragt sie, und fügt hinzu: ich bin doch Muslima. An welche Grenzen stoßen diese zwei jungen Mädchen mit ihrer Freundschaft, die ältere Schwester erklärt: „Es ist nicht normal“.
Die mögliche Ausrufung eines palästinensischen Staates im September lässt sie den Kopf schütteln. Lieber lebe ich unter israelischer Besatzung als unter der Hamas. Ihr Mann stimmt zu. Wem sie politisch vertrauen: ein kurzes Auflachen, darauf folgend die Aufzählung politischer Namen und Gruppierungen. Erneut ein kurzes Auflachen.
Die selten abgeschlossene Tür öffnet sich, ein vor Jahren von Beit Jala nach Europa ausgewanderter Freund kommt extra zu Besuch. Übergroße Freude und Planungen für die nächsten Abende. Nein, auch mit norwegischem Pass und Staatsangehörigkeit kann er nicht nach Israel und nicht über Tel Aviv einreisen. Sein Geburtsort verrät ihn als Palästinenser. Er will zurückkehren. Bald.
Wir hingegen fahren über den Checkpoint zurück. Ein kurzer Stopp, die deutschen Pässe gezeigt, schon sind wir über die Grenze und auf israelischem Gebiet. Die Mauer verschwindet in der Nacht, bis sie mit den Augen nicht mehr zu erblicken ist.