Im aktuellen Anstoß – der hier auch als pdf gelesen werden kann – findet sich ein Artikel von uns, der im folgenden dokumentiert wird:
Was motiviert den russischen Imperialismus?
Nach wochenlangen Vorbereitungen begann am Morgen des 24. Februar die Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine, begleitet von Luftangriffen auf ukrainische Militäranlagen und Flughäfen, aber auch die großen Bevölkerungszentren. Russische Truppen rückten von der Krim, aus den Separatistengebieten im Osten, aber auch aus Russland und Belarus in die Ukraine vor. Ihr Ziel war augenscheinlich, die großen Städte der Ukraine im Norden und Osten des Landes – Kiew, Charkiw, Mariupol – einzunehmen, das ukrainische Militär zu zerschlagen und die ukrainische Regierung zu entmachten.
Am Vortag hatte der russische Präsident Putin in einer bemerkenswerten Rede den Angriff begründet und zugleich das Koordinatensystems des russischen Imperialismus verdeutlicht. Er lieferte dabei im Kern zwei Begründungen, warum ein Angriff Russlands auf die Ukraine aus seiner Perspektive gerechtfertigt sein, und machte deutlich, dass es ihm keinesfalls nur um die Separatistengebiete im Osten der Ukraine ging, sondern er das ganze Land unter russische Kontrolle bringen wolle.
Putins erster Punkt war, dass die Ukraine „unter vollständige Kontrolle von außen gestellt wurde“, also die ukrainische Regierung ein Marionettenregime der NATO und der USA sei. Sein zweiter Punkt war, dass die Ukraine ein künstlich von der Sowjetunion geschaffener Staat sei, und Land und Menschen eigentlich zu Russland gehören würden. Ich werde folgend beide Begründungen einordnen, um die Triebkräfte des russischen Imperialismus sichtbar zu machen.
Der imperialistische Konflikt um die Ukraine
Zunächst einmal: Die Ukraine ist kein Marionettenstaat, der vollständig von irgendjemanden kontrolliert wird. Die aktuelle Regierung wurde im April 2019 in demokratischen Wahlen gewählt. Der Sieger der Wahl und jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj setzte sich im ersten Wahlgang mit guten 30 Prozent der Stimmen nicht nur gegen dem Russland nahestehenden Kandidaten Jurij Boiko (11,7 %), sondern auch gegen zwei gegen Russland auftretende Kandidat_innen durch: Julija Tymoschenko (13,4 %) und den bisherigen Präsidenten Petro Poroschenko (knappe 16 %). Der russischsprachig aufgewachsene Selenskyj wurde vorrangig gewählt, weil er als Kämpfer gegen die grassierende Korruption gilt, aber auch, weil er sich etwa gegen die Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache positionierte und insgesamt eine moderatere Haltung gegenüber Russland einnahm.
Putins Wahrnehmung, dass die Ukraine von der USA kontrolliert sei, bildet also nicht unmittelbar politische Realitäten ab, sondern ist eine verzerrte Wahrnehmung, die aus einem Kontrollverlust Russlands resultiert. Bis 2014 gelang es Russland, durch politische Einflussnahme die Anbindung der Ukraine an die EU zu bremsen – auch wenn es damals schon Proteste gegen diese Einflussnahme gab, etwa im Rahmen der sogenannten ‚Orangenen Revolution‘ 2004. In Reaktionen auf wirtschaftliche Sanktionen durch Russland sagte die damalige Regierung 2013 die geplante Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU ab, worauf es zu Protesten kam. Diese mündeten im sogenannten ‚Euromaidan‘, dem Sturz der Regierung und schließlich in der Wahl Poroschenkos zum Präsidenten sowie zur russisch unterstützen Abspaltung der Separatistengebiete im Osten und der russischen Besetzung der Krim.
Hintergrund dieser Einflussnahme ist die Position der Ukraine zwischen Russland und der EU, die dazu führt, dass beide Seiten versuchen, ihre jeweiligen ökonomischen Interessen in der Ukraine durchzusetzen. Noch aus der Sowjetunion stammen die engen Verflechtungen der russischen und ukrainischen Wirtschaft. Zugleich gehen 40 Prozent der Exporte der Ukraine in die EU und Deutschland exportiert pro Jahr 4,6 Milliarden Euro an Gütern, vorrangig Produkte der Chemie-, Maschinen- und Automobilindustrie, in die Ukraine. Darüber hinaus verfügt die Ukraine über Vorkommen einiger als strategisch geltender Rohstoffe – etwa für Batterien – und zudem über eine Reihe noch nicht privatisierter Staatskonzerne, um die deutsche und russische Konzerne mit einheimischen Oligarchen konkurrieren. Ökonomisch findet in der Ukraine also ein Konflikt zwischen russischen und EU-europäischen, nicht zuletzt deutschen, Interessen statt.
Militärisch ist die Ukraine nach der militärischen Intervention Russlands 2014 dem Westen näher gerückt, und modernisierte die eigene Armee mit Rüstungsgütern aus Deutschland, den USA, der Türkei und Polen. Die NATO-Mitgliedschaft wurde debattiert, stand aber nicht auf der Tagesordnung. Für die Ukraine wurde sie attraktiv, da ein NATO-Mitglied nicht von Russland hätte angegriffen werden können – dies war auch die Hauptmotivation für Polen und die baltischen Staaten, in die NATO einzutreten. Die Wahrnehmung Putins sich in einer Notwehrsituation gegen die vorrückende USA zu befinden, resultiert also weitgehend aus einem verschobenen Kräfteverhältnis seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zugleich ist sie eigentlich schon veraltet, da die USA seit 2011 ihr militärisches Augenmerk zunehmend auf den Pazifik und China verschiebt und Europa gerne europäischen Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland überlassen würde.
Die neo-eurasische Ideologie des russischen Imperialismus
Der zweite Punkt, der für Putin den Angriff auf die Ukraine rechtfertigt, ist, dass die Ukraine ein künstlicher Staat sei. Sie sei „vollständig von Russland geschaffen wurde, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Russland“ – für Putin ein Fehler, den er korrigieren möchte. Auch hier gilt zunächst: Historisch ist das falsch. Die Ukrainische Volksrepublik entstand im Zuge der Oktoberrevolution durch Proklamation des Ukrainischen Zentralrats und umfasste weite Gebieten der heutigen Ukraine und östlich angrenzende Gebiete, die heute zu Russland gehören. Nach dem Bürgerkrieg gegen die Konterrevolution wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der UdSSR gegründet – die zwar in Moskau ihre Hauptstadt hatte, aber dezidiert gegen den imperialen Anspruch des Zarenreichs keine russische Nation war. Putin verzeiht den ukrainischen und russischen Revolutionären diesen antinationalen Anspruch nicht. Für ihn ist die Ukraine „historisch gesehen russisches Land“ und „ein unveräußerlicher Teil unserer [d.h. der russischen] eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion.“
Wie genau Putins neozaristische Vision für ein russisches Imperium aussieht, wird deutlich, wenn man sich die Theorien eines maßgeblichen Stichwortgebers, Alexander Dugin, ansieht. Dugins politische Karriere begann in den späten 80ern als Oppositioneller in der UdSSR und führte von dort in den 90ern und 2000ern zu verschiedenen Versuchen, einen russischen Faschismus zu etablieren, etwa mit der Gründung der ‚Nationalboschewistischen Partei Russlands‘. Seit 2000 vertritt er eine sogenannte „eurasische“ Position und steht dem Kreml nahe. Die Idee „Eurasiens“ ist für Dugin (in Anschluss an den Denker des deutschen Faschismus Carl Schmitt) darin begründet, dass es einen fundamentalen Gegensatz zwischen den „Seemächten“ USA und Großbritannien und der „Landmacht“ Russland gibt, nicht nur auf geopolitischer, sondern auch auf kultureller Ebene. Das Ziel russischer Politik müsse daher sein, Kontinentaleuropa vom amerikanischen Einfluss zu befreien und unter russischer Führung ein „eurasisches“ Imperium zu schaffen, das sich militärisch, ökonomisch und kulturell gegen die als US-amerikanisch verschriene Moderne stellt. Die Kultur, die Dugin für dieses „eurasische“ Imperium unter russischer Führung anstrebt, ist dabei antiliberal und antidemokratisch – und er machte schon 2014 öffentlich deutlich, dass die Ukraine dafür „ausgelöscht“ werden müsse.
Entsprechend ist es auch wenig verwunderlich, dass Russland faschistische Parteien in Europa wie die Rassemblement National (ehemals Front National) von Marie Le Pen oder die FPÖ in Österreich finanziell unterstützt, und auch deutsche Faschist_innen von der AfD über die Zeitschrift Compact bis zu zentralen Akteuren der Corona-Leugner_innen russische Propaganda verbreiten und die lautesten Führsprecher_innen Putins sind.
Putin ist dabei nicht einfach als gewiefter Machtpolitiker zu verstehen, der den europäischen Neofaschismus für russische Interessen instrumentalisiert – er steht ihm auch tatsächlich nahe und teilt dessen Werte. Das zeigt sich nicht nur in seiner Feindschaft zur Demokratie in Russland selbst oder der Unterdrückung und Verfolgung die etwa queere Menschen in Russland ausgesetzt sind, sondern auch in der Gewalt, mit der linken Kämpfen in Staaten der russischen Einflusssphäre begegnet wird: Erst Anfang dieses Jahres wurden Streiks und Arbeiter_innenproteste in Kasachstan mit Unterstützung des russischen Militärs gewaltsam niedergeschlagen. Der russische Imperialismus unter Putin als das zu verstehen, was er ist, nämlich ein reaktionäres Projekt, das dem Kampf um Emanzipation fundamental entgegensteht, und ihm entschlossen entgegenzutreten, ist die Aufgabe der Linken.