Der öffentliche Fokus zur Neonazi-Gewalt am 1. Mai in Thüringen richtete sich bislang vor allem auf den Überfall durch 40 Neonazis auf eine Gewerkschaftskundgebung in Weimar. Dass es in Saalfeld ebenso zu Attacken und Schwerverletzten durch Neonazis kam, fand erst durch die Veröffentlichung eines Augenzeugenberichtes samt Video breitere Beachtung. Dieser Vorfall ist jedoch nur die Spitze des Eisberges eines zum Teil desaströsen Polizeieinsatz am 1. Mai in Saalfeld. Eine erste Auswertung vom Bündnis „Zivilcourage und Menschenrechte“ im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt:
Bis 12 Uhr ohne Komplikationen – Vielfältiger Protest
Der Vormittag verlief entspannt. Um 10 Uhr setzte sich die Demonstration „Für eine solidarische Gesellschaft, Vielfalt und Weltoffenheit statt Neonazismus und Fremdenhass“ in Bewegung und wuchs auf ca. 1000 Menschen an. Unter den Teilnehmer_innen befanden sich sowohl Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus dem gesamten Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, wie der Landrat, die Bürgermeister des Städtedreiecks und umliegender Gemeinden, als auch viele Vereine und antifaschistische Initiativen. „Die Demo verlief reibungslos, der Kontakt mit den Sicherheitsbehörden hat hier gut funktioniert. Viele Teilnehmer_innen artikulierten laut, bunt und deutlich, dass die Neonazi-Demonstration vom ‘Dritten Weges’ unerwünscht sei, aber auch fremdenfeindliches Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft nicht hingenommen werden könne“ so Thomas Endter, Pressesprecher des Bündnisses. Die Demonstration führte nach einer Zwischenkundgebung auf dem Markt weiter durch die Stadt, während parallel das Programm auf der Demokratiemeile sowie auch andere Gegenveranstaltungen starteten. In der öffentlichen Diskussion werden mitunter Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams (z. B. Menschenblockaden) der Demokratiemeile, den Straßenfesten und dem Friedensgebet entgegengestellt. Wir weisen als Bündnis darauf hin, dass all diese Protestformen miteinander verwoben waren, in engem Kontakt standen und das selbe Ziel verfolgten: Einer nationalsozialistischen Ideologie eine Absage zu erteilen und ihr die Straße zu entziehen. Die Veranstalter_innen aller Proteste erklärten sich solidarisch mit den verschiedenen Aktionsformen an diesem Tag und ermöglichten einer großen Anzahl Menschen, auf ihre Weise mitzuwirken.
Was die Sicherheitsbehörden hätten wissen können…
Über 8 Wochen lang, beginnend mit einer ersten Pressemitteilung Anfang März 2015, hatten wir immer wieder öffentlichkeitswirksam darauf hingewiesen, dass angesichts der aktuellen Lage mit deutlich mehr als den angemeldeten 200 Neonazis zu rechnen ist, dass wir realistisch von bis zu 600 Neonazis ausgehen und dass von diesen eine enorme Aggressivität ausgeht. Am 17. April 2015 lud das Bündnis zu einer Informationsveranstaltung ein, bei der ein Journalist und ausgewiesener Kenner aus München vor 70 Besucher_innen im Stadtmuseum Saalfeld ausdrücklich verdeutlichte, dass der Aufmarsch in Saalfeld nicht mit einer NPD-Demonstration vergleichbar ist, bei der die Parteiführung noch den vermeintlichen Anschein eines seriösen Auftretens zu wahren versucht. Veranstalter des Aufmarsches, die Neonazi-Partei der „Dritte Weg“, ist die Ersatzorganisation des 2014 verbotenen Netzwerkes „Freies Netz Süd“ und erweckte bis vor kurzem den Anschein keine Ambitionen zu besitzen bei Wahlen anzutreten. Die Partei organisiert viel mehr „Events“ für gewalttätige Neonazi-Kameradschaften, macht offen Werbung für den Nationalsozialismus und bei vergangenen Aufmärschen der Organisation am 1. Mai fanden routinemäßig immer wieder Gewalttaten und Ausbrüche aus ihren Demonstrationen heraus statt. Für Saalfeld wurde neben dem Auftaktort am anderen Ende der Stadt, über vier Wochen lang öffentlich ein zweiter Treffpunkt in der Neonazi-Szene beworben: 11 Uhr am Saalfelder Bahnhof.
Schwere Gewalttaten durch Neonazis
„Etwa ab 12 Uhr erreichten uns erste Informationen, die ein chaotisches Bild zeichneten. Eine Verkettung von nicht nachvollziehbaren Entscheidungen auf Seiten der Versammlungsbehörde und Polizeieinsatzleitung hatte gefährliche Auswirkungen zur Folge“, fasst Thomas Endter die Eindrücke aus verschiedenen Orten der Stadt zusammen. Sicherlich muss hinterfragt werden, wieso zwischen Anreisetreffpunkt (Bahnhof) und Auftaktort der Neonazi-Demonstration (Sonneberger Straße/Ecke B281) etwa 2km Distanz liegen und im Vorfeld so bewilligt wurden. „In der Konsequenz mussten anreisenden Neonazi-Gruppen diese 2km Strecke per Fuß durch die Stadt zurücklegen. Dies geschah zum Teil von der Polizei unbegleitet und in der Nähe von angemeldeten Gegenveranstaltungen, was von den Neonazis für Gewalttaten ausgenutzt wurde“ so Endter. Bereits gegen 12.30 Uhr kam es aus einer großen Gruppe Neonazis im Bereich des Ebertplatzes zu Angriffen, Eine weitere Gruppe von etwa 70 bis 100 Neonazis traf gegen 12.50 Uhr vom Bahnhof kommend in der Saalstraße ein und marschierte in Richtung der Demokratiemeile und einer Kundgebung der Grünen, die sich davon 150m entfernt befand. Bevor der Neonazi-Mob, ausgerüstet mit Holzstangen und anderen Gegenständen, die Veranstaltungen erreichte, fielen ihm jugendliche Gegendemonstrant_innen vor dem Wahlkreisbüro Haskala zum Opfer. Drei Menschen wurden brutal zusammengeschlagen und zum Teil schwer verletzt. Der Soziologe und Augenzeuge Matthias Quent schilderte später: „In dem Moment war ich überzeugt: Die Nazis schlagen die Jugendlichen tot“. Obwohl zwei Streifenbeamt_innen mit Dienstwaffe in der Nähe waren und auch ein ziviler Kleintransporter der Bereitschaftspolizei eines anderen Bundeslandes zeitweise hinter der Neonazi-Gruppe herfuhr, griff keiner von den Beamt_innen ein. Erst fünf Minuten später näherte sich eine, die ganze Zeit zuschauende Beamtin, den zurückgelassenen Schwerverletzten, welche stark an den Köpfen bluteten, teils ausgeschlagene Zähne, Gehirnerschütterungen und innere Blutungen davontrugen. „Es ist völlig unverständlich, wie es möglich sein konnte, dass an einem solchen Tag bis zu 100 Neonazis aus einem Spektrum, das ankündigte, ‘Wut und Zorn auf die Straße zu tragen’, unbegleitet durch die Stadt laufen können. Entsetzen der bei den Übergriffen anwesenden Beamt_innen ist menschlich nachvollziehbar, bei Gewalttaten, zumal in dieser Härte, ist ein Eingreifen durch die Polizei jedoch ihre Pflicht, die sie nicht unterlassen kann. Es existieren Dienstanweisungen, denen im Ernstfall Folge geleistet werden muss, wenn Leib und Leben in Gefahr sind, vor allem weil Polizist_innen für derart heikle Situationen ausgebildet werden.“ sagt Sprecher Thomas Endter zu Augenzeugenberichten aus der Saalstraße. „Vollkommen fassungslos macht jedoch die anschließende Entscheidung, die Neonazis weiter durch die Stadt ziehen zu lassen und ihnen somit die Teilnahme am Nazi-Aufmarsch zu ermöglichen, ohne dass es zu Identitätsfeststellungen, erkennungsdienstlichen Behandlungen oder einer anderweitigen Dokumentation der Täter kam, um eine Strafverfolgung zu ermöglichen“.
NS-Verherrlichung, Steine, Flaschen und Eskalation
Zwischen 12 Uhr und 14 Uhr kam es zu weiteren Vorfällen und Angriffsversuchen angereister Neonazis und solchen, die gezielt in der Umgebung des Auftaktortes Ausschau nach ihnen missliebigen Personen hielten. Auch Medienvertreter wurden vereinzelt attackiert und gegen 13.30 Uhr musste eine Traube von Journalisten den Auftaktort verlassen, weil die Polizei dort nicht ausreichend präsent war, um für die Sicherheit zu sorgen. „Als sich der braune Aufzug mit 600-700 Teilnehmern aus dem Raum Saalfeld, dem ganzen Bundesgebiet und teilweise aus dem Ausland dann in Bewegung setzte, machte der „Dritte Weg“ keinen Hehl aus seinen nationalsozialistischen Positionen. Es wurden Parolen wie »1. Mai – seit 1933 arbeitsfrei« und »Nationaler Sozialismus – jetzt« skandiert“ berichtet Thomas Endter. Eine kaum vorhandene Begleitung des Aufmarsches durch Einsatzkräfte hatte weitere Attacken, u.a. Würfe von Flaschen aus dem Aufmarsch auf Gegendemonstrant_innen und Journalisten, zur Folge. Zum Teil wurden Personen getroffen und verletzt. Als die Demonstration am Heinrich-Böll-Gymansium zum Stehen kam, weil eine friedliche Sitzblockade den Weg versperrte, erfolgten weiteren Gewalttaten und Ausbrüchen auf Seite der Neonazis. Steine, Flaschen und Pyrotechnik wurden durch Teilnehmer_innen des „Dritten Weges“ geworfen, mit Stangen auf umstehende Personen eingeschlagen. Die Neonazis brachen mit ca. 200 Personen aus und versuchten Gegendemonstrant_innen auch über angrenzende Wohngebiete zu erreichen und zu attackieren. In einem Fall erlitt eine junge Nazigegnerin dadurch Kopfverletzungen. Die Polizei hatte aus Sicht des Bündnisses die Lage nicht mehr im Griff und feuerte gar eine Tränengasgranate in Richtung der Neonazi-Demo, weil diese zeitweise vollends eskalierte. Kurz darauf erfolgte eine Durchsage der Polizei an die Neonazis “Bleibt doch hier. Wir werden hier eine Lösung für euer Anliegen finden”, während zeitgleich mehrere Beamte auf der Straße genauso wie Journalisten und andere Menschen wegrannten, um sich vor den aggressiven Neonazis in Sicherheit zu bringen.
Chaos bei der Polizei – 1. Mai: Drei Neonazi-Demonstrationen in Saalfeld
„Nach dem Neonazis bereits zu Hunderten bei der Anreise durch die Stadt Parolen skandierend und prügelnd marschierten und damit quasi eine erste Demonstration absolvierten, folgte die Hauptdemonstration durch die Sonneberger Straße und nach der Eskalation am Böll-Gymasium noch eine dritte Demonstration für diese gewaltbereite Menge, welche außerhalb des abgegitterten Sicherheitskorridors bis zum Bahnhof quer durch die Stadt genehmigt wurde“ stellt Ines Danzer fest, welche ebenfalls im Bündnis aktiv ist. Aus Sicht des Bündnisses war auch die neuerliche Demonstrationsgenehmigung durch die Innenstadt, vorbei am alternativen Kinder- und Familienfest im Dürerpark sowie am alternativen Treffpunkt „Klubhaus der Jugend“ fatal. „Statt endlich Neonazi-Gewalttäter festzunehmen, wurden diese erneut mit einem Aufmarsch belohnt, wo sie weiter Hassparolen verbreiten konnten. Um die neue Route durchzusetzen wurden alle auf der Strecke befindlichen Personen und Gegendemonstrant_innen mit teils brachialer Gewalt, Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray durch die Polizei geräumt“ berichtet Ines Danzer. Dadurch wurden mehrere Personen verletzt. Insbesondere im Bereich des alternativen Kinder- und Familienfestes am Dürerpark wurden Verletzungen in Kauf genommen, zum Beispiel auch durch ein Polizeifahrzeug, das sich durch die abgesperrte Dürerstraße für das Seifenkistenrennen bewegte, während ein Kind mit Seifenkiste diese grade befuhr. Ältere Menschen wurden umgestoßen, Menschen quer durch das Fest getrieben. Als der Demonstrationszug vom „Dritten Weg“ das Klubhaus erreichte, gab es erneute Angriffe aus der rechten Versammlung heraus. So wurden Flaschen und Steine auf Gegendemonstrant_innen geworfen, eine junge Frau erlitt dadurch am Klubhaus Verletzungen im Bereich des Brustkorbes und musste mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert werden, während Neonazis mit Fahnen auf dem Kreisel triumphierend trohnten. Immer wieder kam es am Rande der neuen Route zu weiteren Bedrohungen und Angriffen seitens der Neonazis. „Die Polizei war vollkommen überfordert, teilweise fehlte jegliche Abstimmung unter den Beamten und man konnte beobachten, wie Führungskräfte sich untereinander anschrien und keiner so richtig wusste, wie es nun weiter gehen soll“ schildert Danzer.
Fazit
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Planung von Versammlungsbehörde und Polizei im Hinblick auf das bundesweit größte Neonazi-Spektakel an diesem Tag in Saalfeld, dessen Durchführung, sowie An- und Abreise, völlig unverantwortlich waren und dadurch Gewalttaten durch Neonazi-Gruppen in Saalfeld begünstigte oder mindestens billigend in Kauf genommen wurden. Statt die Neonazi-Straftäter festzunehmen oder wenigstens Identitätsfeststellungen durchzuführen, wurden die Anhänger des ‘Dritten Weges’ am 1. Mai in Saalfeld sogar noch mit drei Demonstrationen belohnt“ so Ines Danzer. Auch Sprecher Thomas Endter meint „Im Vorfeld unserer Demonstration haben sich alle Gruppen äußerst kooperativ bei der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden gezeigt. Umso enttäuschter und verbitterter sind wir jetzt darüber, wie lax mit den offenkundig gewalttätigen/-bereiten Neonazis während ihrer Randale, „Warm- Ups“ und ihres von Gewalt geprägten Aufmarsches umgegangen wurde. Positiv hervorzuheben ist, dass sich über Tausend Menschen den Neonazis auf eine vielfältige Art und Weise entgegenstellten und für eine solidarische Gesellschaft eintraten. Aus zahlreichen Berichten im Nachgang erfuhren wir, dass viele Menschen in der Stadt froh waren, dass wenigstens antifaschistische Gruppen in der Nähe waren und sie damit vor weiteren Übergriffen in der Innenstadt schützen konnten, da stellenweise keine Polizeikräfte aufzufinden waren. Die Auswertung dieses Tages ist noch lange nicht zu Ende und bedarf noch einer weiteren Aufarbeitung. Das Bündnis „Zivilcourage und Menschenrechte“ möchte gerne mit allen demokratischen Akteur_innen des Tages ins Gespräch kommen. Vor allem gilt es künftig sicherzustellen, dass die Zivilgesellschaft von ihrem Recht Gebrauch machen kann, gegen demokratiefeindliche Ideologien protestieren zu können – mit einem Gefühl der Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit. Hier sind auch die Sicherheitsbehörden gefordert, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Die im Bündnis vernetzten Menschen werden sich von der massiven Neonazi-Gewalt am 1. Mai nicht einschüchtern lassen, sondern weiterhin gegen neonazistische und andere menschenfeindliche Bestrebungen im Landkreis aktiv sein und umso mehr für eine weltoffene Gesellschaft werben.
Bündnis “Zivilcourage und Menschenrechte” im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, 18. Mai 2015