#WeRemember

Shoa, Yad Vashem„Und die da reden von Vergessen und die da reden von Verzeihn – all denen schlage man die Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.“ Bertold Brecht

 

Ich habe von 1998 – 1999 in einem Elternheim in Jerusalem, Israel gearbeitet. Im Bet Horim Siegfried S. Moses, „Derech Betlehem chameschim we staim“ (Betlehem Straße 52), klingt es Jahrzehnte später noch in meinen Ohren. Ein Elternheim – was für ein wunderschöner Name für einen Ort, der in Deutschland Altersheim heißt.
Ein Elternheim, in dem sich Menschen bereits bei der Gründung des dazugehörigen Vereins Gedanken darüber gemacht hatten, was sie im Alter benötigen würden. Sie: Überlebende der Shoa.

Die tätowierten Nummern auf ihren Armen aber noch mehr ihre Geschichten, die sie teils nicht mehr selber erzählen konnten, machten für mich das Unfassbare in Teilen fassbar. Sie lassen mich seitdem nicht mehr los.

Frau L., damals 92 Jahre alt, im Alter erblindet. Ihr engster Familienkreis konnte fliehen. Nach der Mittagsruhe war oft ich diejenige, die bestimmte ältere Menschen (die im Alter teils nur noch deutsch verstanden) wecken und zum Kaffeetrinken holen sollte. Frau L. war nicht im Bett. Ich fand sie darunter. Zusammengekauert suchte sie den Boden nach Streichhölzern ab. Sie war der Überzeugung, im Versteck zu sein. „Sie kommen. Sie kommen. Sie holen mich. Sie holen uns.“, flüsterte sie immer wieder voller Angst und strich den Boden auf der Suche nach Streichhölzern ab. Wir lagen länger zusammen unter dem Bett, vielleicht waren es 30 Minuten, vielleicht eine Stunde. Dann war sie bereit, unter dem Bett hervor zu kommen. Aber bis zum Abend hielt sie – fast durchgängig – meine Hand.
Ihr Sohn, der später gerufen wurde, erzählte mir dann, dass seine Mutter kaum von ihren Erlebnissen in der Shoa erzählt habe. Sie sei immer stark gewesen. Für die Familie, für ihn, in ihrer Arbeit als Krankenschwester. Immer eine starke Frau. Große Teile ihrer Familie wurden in der Shoa ermordet.

Frau R., tätowierte Nummer. Klein. Zierlich. Lange, weiße Haare. Helle blaue Augen. Oft ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Sie sprach sieben oder gar mehr Sprachen. Außer ihrer Tochter verstand niemand sie komplett – sie sprach alle Sprachen durcheinander. Jiddisch, polnisch, deutsch, hebräisch, russisch, englisch, französisch… An einem Morgen war ich eingeteilt, ihr beim Duschen zu helfen.
In ihrem Badezimmer, sie sitzend auf dem Duschstuhl, begann sie, als ich die Dusche in die Hand nahm, zu schreien. Ich hatte noch nie solche Angstschreie gehört. „Mamale, Mamale, pomoc, Mamale“. Ich wusste damals nicht, was es bedeutete, ich wusste nur, es ist die Dusche und meine Äußerung: „Frau R., ich würde Sie jetzt duschen.“ Wir gingen aus dem Badezimmer wieder hinaus. Nach und nach ging es ihr besser. Eine Angehörige erzählte mir später, dass die gesamte Familie von Frau R. in Auschwitz ermordet wurde. „Sie wurden zum Duschen geholt.“

Frau Lö., Tochter eines Kaufhausbesitzers. Ihrer Familie war es gelungen zu fliehen. „Von uns haben fast alle überlebt“, sagte sie mir gleich am Anfang unseres Kennenlernens. Frau Lö. brachte mir das Zählen in Hebräisch bei und die wenigen Worte, die sie noch erinnerte, Jam Hamelach (Totes Meer), Hazilu (Hilfe), slicha (Entschuldigung), Le’at, le’at (immer mit der Ruhe). Sie hatte sich geschworen nie wieder deutsch zu sprechen, verlor jedoch im Alter die hebräische Sprache. Ihre Enkel*innen hatten begonnen, deutsch zu lernen, um mit ihrer Großmutter sprechen zu können. Sie schmerzte es, diese Sprache wieder nutzen zu müssen, um mit ihren Enkel*innen sprechen zu können. Eine stolze, wahnsinnig belesene Frau, die oft zitierte und traurig von längst vergangenen Treffen mit ermordeten Freund*innen im Café Kranzler schwärmte. Frau Lö. erzählte mir viel von jüdischem Leben vor dem III. Reich in Deutschland, noch mehr aber vom Aufbau des Staates Israel: „Geschützt sind wir nur dort, wo wir selber für unseren Schutz verantwortlich sind.“, sagte sie.
Einer ihrer Enkel kam während seines Militärdienstes zu Besuch. „Siehst du, Katharina? Nie wieder.“

Frau M., Kettenraucherin bis zum Tod. Alle Männer nannte sie „Ari“, alle Frauen „Muttile“. Sie kommentierte alles nach Lust und Laune, sie lachte viel, sie stritt gerne und gut. Ihr Stammplatz war der Eingangsbereich, in dem sie rauchend in ihrem Rollstuhl saß und wirklich jede*n ansprach: „Ari?“, „Muttile?“ „Efschar zigarja, bewakascha?”(Hast du bitte eine Zigarette für mich?). Und sie sang. Laut. Mit kratzender, zerrauchter Stimme, und voller Lust: “Wien, Wien, nur du allein sollst stets die Stadt meiner Träume sein…”, um dann stets hinterher zu schieben: “Bis 1938.”

Frau L. Frau R., Frau Lö. und so viele andere wunderbare Menschen, die ich kennenlernen durfte – mit ihrer Geschichte. Sie alle hatten Familienangehörige und Freund*innen, die in der Shoa ermordet wurden. Deren Geschichte wurde mörderisch beendet.

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