Gedächtnisprotokoll Dessau, 7.1.2012 – Oury Jalloh Demo

Video der Oury Jalloh Demonstration in Dessau

Gedächtnisprotokoll eines Trauertages in am 7.1.2012

Am Sonnabend, dem 7. Januar 2012, dem nunmehr 7. Jahrestag des Todes von fuhr ich mit meinen 3 Kindern und Freunden des VOICE Refugee Forum von nach Dessau, um unsere Anteilnahme an der Trauer und die Unterstützung der Forderung der „Initiative in an Oury Jalloh“ nach lückenloser Aufklärung und entsprechender Bestrafung der verantwortlichen Polizeibeamten auszudrücken. Als wir kurz vor 13:00 Uhr am Bahnhof eintrafen, war der Eingang zur Bahnhofshalle bereits durch Polizeibeamte für Demonstrationsteilnehmer abgeriegelt, sodass auch unbeteiligte Bahnreisende vor allem am Zutritt zum Bahnhof eingeschränkt wurden.

Den Informationen umstehender Teilnehmer der Veranstaltung war zu entnehmen, dass Protagonisten der Initiative innerhalb des Bahnhofsgebäudes durch die festgehalten wurden, weil es Unstimmigkeiten um das zentrale Motto der Veranstaltung – „OURY JALLOH – DAS WAR MORD!“ gäbe und die Polizeibeamten diese Meinungsäußerung in Schrift und durch Rufe verhindern wolle. Die Benutzung der Bahnhofstoilette wurde durch behelmte Polizeibeamte vor und hinter den Eingangstüren des Bahnhofs auf Nachfrage verweigert….selbst nachdem die Protagonisten – Mouctar Bah und Mbolo Yufanyi bereits wieder aus dem Bahnhofsgebäude heraus gelassen worden waren, wollte mich (ausgerechnet?) eine PolizeibeamtIn mit den Worten „Sie kommen hier aber nicht rein!“ allen Ernstes daran hindern, 2 meiner Kinder auf die Toilette des Bahnhofes zu begleiten. Nachdem der Lautsprecherwagen nach den ersten Ansprachen vor Beginn des Trauermarsches gewendet worden war, wurde der weitere Ablauf durch eine eilig aufgestellte, polizeiliche Zweierkette behindert. Zusätzlich bewegte sich eine weitere Polizeikette seitlich auf den Lautsprecherwagen zu, wodurch es zunächst zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Demonstrationsteilnehmern kam, welche sich dort um den Kleinbus befanden.

Wie andere auch begab ich mich – nachdem ich meine Kinder in die Obhut zweier Frauen gegeben hatte -ebenfalls zum Lautsprecherwagen. An der Linie Polizei – Demonstrationsteilnehmer angekommen versuchte ich die emotional überladene Situation durch Heben der Arme zu deeskalieren und musste schließlich einen nahe stehenden Polizeibeamten mittels Augenkontakt und Griff in den Schlagarm von der Ausführung eines dann mittlerweile schon 4. und 5. Faustschlages gegen einen Demonstrationsteilnehmer hindern. Die Situation an dieser Stelle konnte durch Einflussnahme der Ordner des Demonstrationszuges schließlich beruhigt werden – die Polizeikette rückte hier ab und begab sich in Richtung vor die Eingangsstufen des Bahnhofsgebäudes, wo es zwischenzeitlich zu erneuten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrationsteilnehmern gekommen war. Auch hier konnte die Situation durch das deeskalierende Eingreifen von Ordnern und besonnenen Demonstrationsteilnehmern wieder entspannt werden.

Als ich zu meinen Kindern zurückkehrte, waren diese in Sorge um mich und nach rücksichtslosem beiseite Stoßen durch mitten durch die Menge preschender Polizeibeamte verängstigt und mussten aufgeklärt und beruhigt werden. Der ohnehin schon durch die Festsetzung verzögerte Ablauf wurde auch nach Deeskalation der Übergriffe auf dem Bahnhofsvorplatz durch die bereits erwähnten Polizeiketten noch mindestens weitere 15min aufgehalten und erst nach wiederholten Aufforderungen wieder freigegeben. Am Rande des Demonstrationszuges wurde ein Demonstrationsteilnehmer mit Kamera auf dem Weg vom Dessauer Verwaltungsgericht – in dem der im 1. Verfahren vorsitzende Richter Steinhoff im Zusammenhang mit den erteilten Freisprüchen für die angeklagten Polizeibeamten das Aussageverhalten aller 50 vorgeladenen Polizeibeamter für das „Scheitern des rechtsstaatlichen Verfahrens“ verantwortlich machte – zum Gedenkstein für Alberto Adriano, der in der Nacht vom 10. zum 11. Juni 2000 von 3 Wolfener tödlich zusammengeschlagen wurde, von einem Polizeibeamten in die Beine getreten, sodass er stürzte.

Auch hier mussten die eskalierten Emotionen ohne eigentliche Klärung der Umstände wiederholt beruhigt werden. Einige Anwohner und Passanten bekundeten ihren Unmut über unseren Trauer- und Protestzug mit Schmährufen wie „Haltet die Klappe und verschwindet!“ und Gesten wie dem „Stinkefinger“. Im weiteren Verlauf hielt sich die Polizei bis zum Endpunkt des Trauermarsches am Bahnhof zunächst zurück, jedoch nur, um am Ende umso massiver gegen einzelne Demonstrationsteilnehmer vorzugehen und Festnahmen vorzunehmen. Ein Mann wurde mit Kabelbinder fixiert abgeführt, eine Frau im hinteren Teil der Bahnhofshalle isoliert. Ich begab mich in die Nähe einer Gruppe von Polizeibeamten und versuchte gerade einen Überblick über die Situation zu bekommen, da sah ich wie ein Polizeibeamter hinter den vor mir stehenden und über deren Schultern hinweg gezielt dem hinter mir gestikulierenden Komi (der Mann mit Kamera, der bereits zuvor getreten worden war) eine Flüssigkeit ins Gesicht spritzte, ohne das hier ein handgreiflicher Übergriff seitens der Protestierenden vorgelegen hätte.

Komi brach mit tränenden Augen und nach Luft ringend zusammen. Umstehende organisierten Wasser aus Flaschen zum Spülen der Augen, während ich auf die Polizeibeamten einredete um den weiteren Einsatz der Reizflüssigkeit zu verhindern. Ein anderer anwesender Arzt assistierte dem verletzten Komi umgehend – erst einige Zeit später traf ein Sanitäter der Polizei mit einem Notfallrucksack ein. Die Situation wurde durch Polizeibeamte umstellt und eine weitere Kontaktaufnahme zum Verletzten bis zum noch späteren Eintreffen der Rettungssanitäter verhindert. Zwischenzeitlich musste ich mit ansehen, wie Mouctar Bah bei einem anderen Polizeibeamten zu intervenieren versuchte, als dieser massiv stoßend gegen 2 Frauen vorging. Der Beamte wandte sich nun Mouctar zu und stieß dabei vehement mit seinem Polizeihelm gegen Mouctars Kopf.

In die folgende Beschwerde Mouctars hinein, versuchte der Beamte Mouctar zurück zu stossen, wobei sich Mouctar nun auch körperlich dagegen wehrte. Und wieder kam es zum gezielten Einsatz der Reizflüssigkeit – diesmal gegen den Anmelder der Trauerveranstaltung und Gründervater der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh selbst. Auch Mouctar brach mit brennenden Augen und Atemwegsbeschwerden zusammen. Da die Situation nun insbesondere durch das aggressive Auftreten der Polizeibeamten zunehmend außer Kontrolle geriet, habe ich mich zum persönlichen Schutz meiner Kinder wieder vor die Eingangsstufen des Bahnhofsgebäudes begeben. Nach längerer Zeit traf der erste Krankenwagen mit Rettungssanitätern ein, welche kurze Zeit später den regungslosen Mouctar Bah auf der Rettungstrage aus dem Bahnhof und in den Rettungswagen brachten. Über die gesamte Zwischenzeit waren die Bahnhofseingänge erneut durch eine Polizeikette abgeriegelt worden, welche erst nach gefühlten 20min wieder abgezogen wurde. Ich begab mich danach erneut in die Bahnhofsvorhalle, wo Komi noch immer von Beamten der sogenannten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit umstellt war, welche mich trotz explizitem Hinweis auf meine ärztliche Profession nicht zum Verletzten durchlassen wollten, mich daraufhin nur belächelten und im Übrigen damit beschäftigt waren, die Fotodokumentation der bestehenden Zustände so weit wie möglich zu behindern.

Einer der Beamten drohte gar erneutes gewaltsames Vorgehen an, wenn kein Presseausweis vorgelegt werden könne, was von mir jedoch auf argumentative Weise mit dem Hinweis auf das Recht der Dokumentation der eigenen Veranstaltung verhindert werden konnte. Nach und nach trafen 2 weitere Rettungswagen und auch ein Notarzt ein. Ich erfuhr, dass es noch einen weiteren Verletzten unter den Aktivisten der Initiative gegeben hatte – Abraham. Ich brachte meine Kinder zunächst zu unseren Autos auf einem nahe liegenden Parkplatz und begab mich erneut zum Bahnhof, nachdem ich Abraham angerufen hatte und er mich bat, ihn ärztlich zu untersuchen, da der anwesende Notarzt noch mit den anderen Verletzten beschäftigt war. In Absprache mit den Rettungssanitätern begann ich meine Untersuchung im Rettungswagen, zu der der Notarztkollege im Verlauf hinzukam. Abraham hatte eine leicht verkrustete Schlagverletzung im behaarten Bereich der linken Scheitelpartie ohne akut erkennbare neurologische Beeinträchtigungen auf. Die von ihm beschriebenen Atemnotbeschwerden nach Anwendung einer Reizflüssigkeit zeigten sich, wie auch die zeitweilige Einschränkung des Sehvermögens, wieder vollständig rückläufig. Ich war dem notärztlichen Kollegen noch mit der Lampe meines Telefons bei der Prüfung der direkten Pupillenreaktion behilflich und zog mich dann zur Rückfahrt nach Jena schließlich endgültig vom Ort des Geschehens am Bahnhof Dessau zurück.

Thomas Ndindah, Jena am 10.1.2012

Quelle: The Voice

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